MARIANNE LANG – DAS HAUS IM GRÜNEN

Überlegungen im Rahmen einer Ausstellung

Roman Grabner

 

One time there was a picket fence

with space to gaze from hence to thence.

An architect who saw this sight

approached it suddenly one night,

removed the spaces from the fence,

and built of them a residence.

[...]

Christian Morgenstern

Trans. Max Knight

 

 

DAS HAUS IM GRÜNEN (2014–2017) von Marianne Lang ist vielleicht nicht jenes Morgenstern’sche Wunder der Architektur, das nur aus Zwischenräumen besteht, doch offenbart Lang in ihrem ironischen Spiel mit Raum und Hülle, dass sich die Formen ihrer Bauwerke gerade jenen Leerstellen eines Dazwischen verdanken. Die Künstlerin zeigt keine architektonischen Körper, sondern nur deren dichten Pflanzenbewuchs, der aus den Fugen und Nischen wuchert. Das Haus, das üblicherweise „aus einem Dach, aus Mauern mit Fenstern und Türen“1 besteht, ist in dieser Form nicht mehr existent. Lang hat die Beobachtung, dass ganze Gebäude unter einem dichten Pflanzenbewuchs sprichwörtlich verschwinden, in die Tat umgesetzt und die statische Konstruktion des Raumes eliminiert. Das Volumen, der Baukörper, deutet sich nur durch die Hülle der botanischen Ummantelung an. Mit dem Titel Haus im Grünen wird dementsprechend keine konkrete Architektur bezeichnet, sondern vielmehr die Rückeroberung menschlicher Bauten durch die Natur ins Blickfeld genommen, die Struktur des biologischen Wachstums reflektiert und das Sehnsuchtsmotiv eines harmonischen Lebens am Land humorvoll beschworen. Zugleich erscheinen die Arbeiten als augenzwinkernder Verweis auf die zeitgeistige Tendenz einer „grünen“ Architektur, die nicht nur durch nachhaltige Konzepte, sondern vor allem auch durch begrünte Wände und vertikale Gärten in Erscheinung tritt, wie sie zum Beispiel der französische Gartenarchitekt Patrick Blanc für Bauten von Jean Nouvel oder Herzog & de Meuron entwickelt hat.

            Der Werktitel Haus im Grünen (2014–2017) dient Lang auch als Name für ihre Werkschau in der Galerie bäckerstrasse4. Sie hat in der Schau Arbeiten und Serien aus den Jahren 2012 bis 2015 versammelt, die im thematischen Spannungsfeld von Natur und Architektur den Zwischenraum als gemeinsamen Ausgangspunkt bzw. als verbindende Klammer teilen.

 

 

ZWISCHENRAUM

 

DER BRITISCHE PHILOSOPH und Mathematiker Alfred N. Whitehead entwickelte in seinem Buch „Prozess und Realität“ die These, dass sich der Kosmos nicht aus träger, empfindungsloser Materie zusammensetzt, wie das René Descartes für Jahrhunderte festgemacht hatte, sondern aus komplexen, ineinandergreifenden und miteinander verwobenen Prozessen und Relationen. Der gesamte Kosmos, vom Wasserstoffatom bis zum menschlichen Bewusstsein, sei geprägt von einer Struktur des Werdens, von Prozessen und Relationen,2 die immer neue Prozesse und neue Relationen bedingten. In seiner Betrachtung des Lebewesens und seiner Umgebung gelangte er zu der Erkenntnis, dass das Leben „in den Zwischenräumen jeder lebenden Zelle“ verborgen liege.3

            Auch wenn Whitehead die Formulierung nicht metaphorisch meinte, so lässt sich daraus eine Theorie des Zwischenraums entwickeln, als dem Ort, an dem die eigentlichen Prozesse des Lebens stattfinden.4 Er selbst vertrat die Ansicht, „daß das Leben ein Charakteristikum des ‚leeren Raums’ ist“, dass erst der leere Raum – der Zwischenraum – Leben konstituiere.5

            Es sind die kleinen Spalten, Ritzen, Nischen, Lücken, Kerben, Furchen, Fugen, Risse, Löcher und Poren, in denen sich das Leben einnistet, um in fast schon ornamental zu nennenden Formen Wände und Oberflächen zu besetzen. Der Zwischenraum kann wörtlich in einem räumlichen und in einem zeitlichen Sinn verstanden werden. In seiner zeitlichen Bedeutung handelt es sich um einen Abstand zwischen zwei Vorgängen, um das Intervall zwischen zwei Augenblicken. In seinem räumlichen Verständnis bezeichnet er einen leeren Raum zwischen zwei Körpern, einen intermediären Raum, der zugleich trennt und verbindet.

            Der Zwischenraum als Leerstelle, aber auch als ein transitorisches Dazwischensein, als Demarkation für Unterscheidungen, durch die Zusammenhänge erst manifest werden, leitet in eine Ausstellung ein, die in zarten Linien metaphorisch und poetisch eine „Kultur der Zwischenräume“ skizziert und zugleich die Möglichkeiten des Mediums Zeichnung auslotet.

Im Begriff der Fuge wird der Zwischenraum nicht nur als Spalt zwischen zwei Teilen bzw. Materialien beschrieben, sondern konnotativ auch um das mehrstimmige musikalische Kompositionsprinzip selben Namens erweitert. In der Fuge wird ein Thema eingangs vorgestellt und anschließend zeitlich versetzt und in verschiedenen Modi wiederholt. Die musikalische Terminologie spricht passenderweise von der „Exposition“, die das Motiv festlegt, das in der Folge immer wieder aufgegriffen und variiert wird. In unterschiedlichen grafischen Techniken, vom Zeichnen mit Bleistift über das Gravieren, Aufreißen und Auskratzen hin zum Einbrennen, zieht Lang ihr künstlerisches Thema durch die Ausstellung.

 

 

NATURAL COVER

 

LANGS ARBEITEN beruhen auf Naturbeobachtungen, im Sinne von Prozessen des Wachstums und der Anpassung, der Erkundung von Überlebensstrategien in prekären Lebensräumen, von Protokollen von Wetterphänomenen und der Wechselwirkung von menschlichen und natürlichen Räumen. Sie hält sich dabei an das Geringfügige der Natur und widmet sich in ihren Arbeiten jenen Gewächsen und Geschöpfen, die in der Enge einer Kerbe gedeihen und aus der Dunkelheit des Spalts an die Oberfläche drängen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel schreibt, dass das Licht das äußerliche Selbst der Pflanze sei und dass sie, vom Licht hinausgerissen, demselben entgegenrankt. „In sich nimmt sie sich aus ihm die spezifische Befeuerung und Bekräftigung [...].“6 Es sind Pflanzen wie der Efeu, das Mauerblümchen oder diverse Moose und Flechten, denen Langs Aufmerksamkeit gilt und deren Wachstumsstruktur sie im erweiterten Medium der Zeichnung verarbeitet. Naturalistische Darstellungen von „Unkraut“ werden aus Laminatplatten gekerbt, Papier wird in der Erscheinungsform von Baumflechten aufgekratzt und -gescheuert, die Kubatur von Mauerziegeln in Papier geprägt und die florale Struktur von sogenannten „Eisblumen“ in Glas graviert. Doch nicht nur Pflanzen sind heliotrope Geschöpfe, die aus der Dunkelheit ins Helle streben, sondern auch Insekten wie Motten zieht es konsequent zum Licht. In ihrer Serie Illuminated (2015) brennt Lang die Zeichnungen von unterschiedlichen Motten mit dem für die Insekten so anziehenden wie verhängnisvollen Element Feuer in das Papier. Die Brandings werden wie biologische Schautafeln arrangiert oder zu Schwärmen verdichtet. In ihrem Werkblock Buchdrucker und Kupferstecher (2014–15) greift sie das symmetrische Fraßbild von Borkenkäfern auf und formt deren Gänge im Bast plastisch in Gips nach. Das Brutsystem eines Schädlings wird zum ornamentalen Stuck und als Zierelement in den Galerieraum transferiert.

            Es geht um Freiräume, an die wir nicht denken, die wir als solche nicht erkennen und die mit Leben erfüllt werden, das wir nicht beachten, und wenn, als gering schätzen. Der Zwischenraum als (H)Ort des Lebens, als Freiraum der kreativen Praxis, als Anlass und Struktur künstlerischer Arbeiten, als Metapher für gesellschaftliches Zusammenleben und zugleich als Sinnbild für das Streben nach Licht in der mannigfaltigen Vielfalt seiner Bedeutungen, ist das Wasserzeichen auf sämtlichen „Zeichnungen“ von Marianne Lang.

            Am Ende der Ausstellung wird das Motiv des Hauses im Grünen nochmals in einer skulpturalen Arbeit aufgegriffen. Lang hat aus handelsüblichen Holzlatten eine Behausung gebaut, die sowohl die Form eines Campinganhängers zitiert als auch die Konstruktion eines Gartenspaliers aufweist. Der Traum vom Haus im Grünen wird damit zweifach evoziert, einerseits durch die imaginäre Fahrt in das Sehnsuchtsmotiv Natur und andererseits durch die Vorstellung, dass das Gestell aus Holzlatten in Kürze von diversen Kletterpflanzen zugerankt sein wird. Die Laube (2015) ist ein absurdes Hybrid, das zwischen grenzenloser Freiheit der Mobilität und selbstbestimmter Freiheit der Autarkie vermittelt und in seiner Ambivalenz die Auflösung der Grenzen zwischen Natur- und Kulturraum indiziert.

 

 

A ROOM OF ONE’S OWN

 

MARIANNE LANG befasst sich seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens mit der Konstruktion von Raum, mit der Wechselwirkung von privat und öffentlich, innen und außen und den jeweiligen Wahrnehmungsmodalitäten. Sie hat das Hinterzimmer als „Trennwand zwischen der realen und der konstruierten Welt“7 inszeniert (2008), die Vorstellungen vom eigenen Wohnraum thematisiert (2009) und sich mit den zur klassischen Inneneinrichtung gehörenden Zimmerpflanzen (2010), mit den Mustern von Wandtapeten (2011), der Struktur von Parkettböden (2011), den Fenstern als Trennwänden zwischen Interieur und Exterieur (2013) und erst kürzlich mit der Doppelfunktion von Gardinen (2016) beschäftigt. Sie hat sich mit architektonischen, soziologischen und künstlerischen Fragestellungen auseinandergesetzt und die Parameter analysiert, die Raum sowohl physisch als auch wahrnehmungspsychologisch definieren.

            Bereits in ihrer Ausstellung „Zwischen Dach und Boden“ in der KHG in Graz hat sie 2011 die Konventionen der Raumdefinition aufgebrochen und ein Holzlattendach nicht als Abschluss einer Architektur, sondern als verbindendes Element zwischen Boden und Decke schräg eingezogen. Mit ihrer Arbeit on the brick hat sie 2012 die konventionellen Bauelemente des klassischen Einfamilienhauses in den Fokus gerückt. Sie hat unterschiedliche Ziegeltypen gezeichnet, im Tiefdruckverfahren vervielfältigt und auf Paletten aus Karton gestapelt. Im Wortspiel mit der englischen Phrase „on the brick“, was so viel wie „am Abgrund“ oder „an der Schwelle stehen“ bedeutet, signalisierte sie zudem ein subtiles Unbehagen an dieser Form des Eigenheimtraums.

            Martin Heidegger hat in seiner kurzen Schrift über das Bauen, Wohnen und Denken den Raum auf seinen Ursprung und seine Etymologie hin untersucht und ihn als frei gemachten „Platz für Siedlung und Lager“ definiert – „Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene.“8 Die Begrenzung dieses Raumes erfolgte traditionell durch Zäune und Mauern. Vilém Flusser schreibt, dass das Wort „Mauer“ vom lateinischen munire kommt, was „sich schützen“ heißt. Die Außenwand schützt vor der Natur und vor potenziellen Eindringlingen, die Innenwand wendet sich an „die Häftlinge des Hauses, um für ihre Sicherheit zu haften.“9

            Bereits in ihrer Arbeit the fence (2012) hat Marianne Lang mit einem lebensgroß gezeichneten Holzzaun, der beliebig lang im Raum ausgerollt und befestigt werden konnte, ironisierend die Ambivalenz von Abgrenzung und Eingrenzung, Schutz und Eingesperrtsein thematisiert. Das Wechselspiel von Innen- und Außenraum tritt auch in früheren Arbeiten wie scalation (2010) in Erscheinung, bei der sie Dachschindeln im Maßstab 1:1 aus Karton nachgebildet und in der Simulation eines gedeckten Daches als Bild in den Innenraum verfrachtet hat.

 

 

DOUBLE SIGHTS

 

DAS HAUPTAUGENMERK von Lang liegt auf der Durchdringung und Verschachtelung von Innen- mit Außenräumen und damit von natürlichen mit menschlichen Räumen. Der Zwischenraum ist ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Analyse. Doch welche Räume kann man im Zeitalter des „Anthropozän“ noch „natürlich“ nennen?

            Der Mensch ist in den letzten Jahrzehnten zur dominierenden Kraft der Veränderung auf der Erde geworden. Er „verändert den Planeten nicht nur global, sondern auch so tiefgreifend und langfristig, dass dies auch in ferner Zukunft noch erkennbar bleiben wird.“10 Es gibt daher seit Jahren eine angeregte Diskussion, ob damit letztlich ein neues Erdzeitalter angebrochen ist, nämlich das des Menschen. Das Subjekt des Anthropozän ist nun wie die Jahrhunderte davor kein außenstehender Betrachter mehr, der von einem geschützten Standpunkt aus die Natur beobachtet. Es gibt keinen sicheren Ort mehr, an den man sich zurückziehen und wo man sich verstecken könnte. Es gibt keinen Ort mehr, an dem man den Schäden, die man dem System zugefügt hat, und den Kräften, die man entfesselt hat, entkommen könnte.11 Die Grenzen zwischen der Umwelt und dem Subjekt, die Mauern zwischen Natur und Kultur sind gefallen oder – wie in den Zeichnungen von Lang – transparent geworden.

            Die Art und Weise, wie wir über Natur, Raum und Architektur nachdenken, ist geprägt von der Art und Weise, wie wir über Grenzen nachdenken. Die spanische Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina hat vor einigen Jahren in ihrem Essay „Battle Lines“ geschrieben, dass der Horizont eine Grenze und diese Grenze eine innere sei – „the horizon is an interior.“ Sie zitiert Heidegger, der meinte, dass eine Grenze nicht das sei, „wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.“12 Der Horizont definiert etwas Eingeräumtes, er setzt dem sichtbaren Raum eine Grenze, oder, wie Colomina schreibt, „er gestaltet diesen sichtbaren Raum zu einem inneren. Er verwandelt das Äußere, die Landschaft, in ein Inneres. Wie kann das von statten gehen? Nur, wenn die ‚Wände’, die diesen Raum umschließen, nicht länger (ausschließlich) aus festen Steinen eines Materials, als Steinmauern, als Ziegelmauern gesehen werden.“13 Die Grenze, die den Außenraum vom Innenraum abgetrennt und damit auch definiert hat, ist aufgelöst. Raum wird zum Sichtfeld, zum „Eingeräumten“, das nur durch den Horizont begrenzt ist.

            Langs Double Sights sind demnach nicht nur als zeichnerische Umsetzungen der fotografischen Technik der Doppelbelichtung zu sehen. Sie zeigen nicht nur die Zusammenführung von Außenwahrnehmung und Innenwahrnehmung wie die Reflexionen auf beiden Seiten einer Fensterscheibe. Die Double Sights zeigen das Eindringen des Außenraums in den Innenraum und die wechselseitige Überlappung und Durchdringung. In ihnen werden die Auflösung der klassischen Raumgrenzen manifest und die sukzessive Verquickung von privatem und öffentlichem Raum. Die Double Sights sind analytische Reflexionen über den Status der Raumgrenze im Zeitalter des Web 2.0, in dem wir Privatsphäre und Intimraum freiwillig preisgeben, Grund- und Persönlichkeitsrechte zunehmend korrodieren und Begrenzungen mehr und mehr ein Effekt der Medien werden.14 Die Arbeiten sind auf den ersten Blick von einer stillen und poetischen Ausstrahlung getragen, doch im Kern von einer höchst politischen Brisanz.

            Das Haus wurde immer wieder als Erweiterung des Körpers gesehen, das Zimmer, die Wände eines Raumes als die äußerste Haut des Menschen. Entfernt man die Wände des Zimmers, wäre das gleichwertig mit dem schutzlosen Ausliefern unseres Innersten.15 Auf den Zeichnungen der Double Sights sieht man keinen Menschen, sondern nur seine Perspektive. Der Mensch selbst ist der Zwischenraum, die Schnittstelle, wo einmal eine Grenze war, jene nicht zu definierende Passage zwischen dem Innen und Außen, der Ort der Bilder.16

 

1 Vilém Flusser: Häuser bauen, in: ders., Medienkultur, Frankfurt/Main 1997, S. 160–163, S. 160.

2 Vgl. Alfred N. Whitehead: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1929), Frankfurt/Main 2006, S. 58.

3 Vgl. Whitehead 2006, S. 206.

4 Isabelle Stengers denkt diese Überlegungen von Whitehead mit der Einzigartigkeit menschlicher Gesellschaften zusammen und spricht von einer „Kultur des Zwischenraums“. Vgl. Isabelle Stengers: Thinking with Whitehead. A Free and Wild Creation of Concepts, Cambridge 2011; vgl. auch Didier Debaise: The Living and its Environments, in: Process Studies 37/2 (2008), pp. 127–139.

5 Vgl. Whitehead 2006, S. 105; “The conclusion to be drawn from this argument is that life is a characteristic of ‘empty space’ and not of space ‘occupied’ by any corpuscular society.” (Ebda.)

6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Neu ed. Ausg. d. Werke v. 1832 – 1845, Bd. 9: Enzyklopädie d. philos. Wiss. im Grundrisse 1830. T. 2. Die Naturphilosophie, Frankfurt/Main 1974, S. 412.

7 Johannes Kubin, zitiert nach: http://www.mariannelang.at/hinterzimmer.html, 25. September 2016

8 Vgl. Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, in: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7. Vorträge und Aufsätze, Frankfurt/Main 2000, S. 145–164, S. 156.

9 Vgl. Flusser 1997, S. 161.

10 Christian Schwägerl, Anthropozän. Vom Gehalt einer neuen Idee, in: Landschaft. Konstruktion einer Realität, Köln 2015, S. 340–345, S. 341.

11 Vgl. Bruno Latour, Sharing Responsibility: Farewell to the Sublime, in: Bruno Latour/Christophe Leclerq (Hg.): Reset Modernity!, Karlsruhe 2016, S. 167-171, 170.

12 Heidegger 2000, S. 156.

13 Beatriz Colomina, Battle Lines, in: John Welchman (Hg.): Rethinking Borders, Minneapolis 1996, S. 51–64, S. 51.

14 Vgl. Colomina 1996, S. 52.

15 Vgl. Georges Teyssot, Water and Gas on All Floors. Notes on the Extraneousness of the Home, in: Chiara Briganti/Kathy Mezei (Hg.): The Domestic Space Reader, Toronto 2012, pp. 147–150, p. 148.

16 Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 12.

 

GEGEN ALLEN ANSCHEIN

Astrid Kury

 

 

Marianne Lang interessiert sich für das Herstellen von Behausungen. Raumeroberungen von Mensch und Natur werden in ihren jeweils eigenen Formen analysiert und mitunter auch in Beziehung gesetzt – vor allem „Schädlinge“ und „Unkraut“ liefern hier interessante Parallelen. Sie arbeitet dabei bevorzugt im Medium der Zeichnung, der Fotografie und der Installation – meist spielt hier ebenfalls das grafische Instrumentarium eine wesentliche Rolle. Subtile Analyse und feine Ironie ergänzen sich dabei aufs Beste. In ihren Installationen eröffnen sich auf Wänden und Mauern fiktive Räume, oder sie arrangiert Raumelemente zu verwirrenden Verschachtelungen. Materialitäten und Proportionen verändert sie so, dass Wahrnehmungsgewohnheiten aufs Erste unbemerkt unterwandert werden.

            Auch in ihren aktuellen Werkserien Double Sight, Haus im Grünen, Buchdrucker und Kupferstecher, hideout und

Fellimitat untersucht Marianne Lang die Interpretationen im Wahrnehmungsprozess. Sie greift dafür auf ebenso vertraute wie unspektakuläre Situationen von Raumeroberungen zurück: Hochsitze auf Waldlichtungen, Ausblicke aus Fenstern, Einblicke in Wohnungen, Kletterpflanzen auf Fassaden, Borkenkäfergänge in Baumrinden ... aber mit dem ersten Blick gibt sich die Kunst ja meist nicht zufrieden. Die Hochsitze, fotografiert auf einer idyllischen Waldlichtung, sehen ja ganz passabel aus – doch wer würde solche Konstruktionen aus Papprohren, Karton und Klebeband erklimmen wollen? Einblicke und Ausblicke verbindet die Künstlerin in ihren Zeichnungen zu einem einzigen Bild – aber wo ist der Standpunkt der Betrachterin geblieben?

            In den poetischen Zeichnungen der Serie Double Sight werden scheinbar diametrale Blickrichtungen wie bei einer Mehrfachbelichtung gleichwertig überlagert. Die erste Annahme, es handle sich bei der realistischen und detailreichen Abbildung um die Darstellung eines Spiegelungseffekts, ist falsch. Denn es gibt hier keinen gemeinsamen Ort: „Drinnen“ ist die Atelierwohnung der Künstlerin in Wien, „draußen“ der Ausblick aus dem elterlichen Zuhause in der Steiermark. Nicht nur verschiedene Standorte, sondern auch zeitliche Abfolgen, gegenwärtige wie vergangene, erlebte wie erinnerte Eindrücke wurden überblendet, sodass die Zeichnungen als Suche nach formalen Entsprechungen für das „Gedankengebrodel in dem durch die Realität hingetragenen Kopf“1 gelesen werden können. Bald schon werden „Augmented-Reality-Brillen“ unseren Alltag prägen und stetig computergenerierte Bilder in den Blick auf die Wirklichkeit einspeisen. Diese Überlagerung von Welten wird neue Double Sights bewirken und sicher auch, nach anfänglicher „Cybersickness“, neue Wahrnehmungsparameter etablieren.

            Die Evolution hat das Ausnützen von Täuschungseffekten immer schon befördert. Diese beruhen darauf, dass das, was als wirklich erkannt wird, kontextabhängig ist. Hideout nennt Marianne Lang ihre Karton-Unterstände in Warntracht. Karton ist das Skizzenmaterial der Objektkunst – schließlich geht es vor allem um die Idee und ihre Visualisierung. Die Hochsitze ließ die Künstlerin nicht einmal so lange stehen, dass sie sich im Regen aufgelöst hätten. Man sieht auch so, dass sich die Natur gut und gerne des Menschen entledigen kann. Auch die Häuser im Grünen sind unbewohnbar. Das Gebäude ist gelöscht, nur angedeutet durch den wuchernden Efeu, der die Form des Bauwerks bewahrt hat. Eigentlich müssten die Pflanzen ohne ihr tragendes Gerüst schon zusammengefallen sein. Entsprechend zu Haus und Hochsitz tut auch die Jagdtrophäe nur so, als ob sie eine wäre. Denn das Fellimitat ist ein zugeschnittenes Stück Parkettboden mit Brandmusterzeichnung.

            Wahrnehmung ist immer Interpretation. Und Interpretationen sind variabel. Das ist eine wichtige Schulung, auch in einem politischen Sinn, der sich die Gegenwartskunst oft und gerne widmet. Hinzu kommt, dass die Bildwahrnehmung eine eigene Möglichkeit von Wahrnehmung schafft. Denn das Bild selbst ist, abgesehen vom Bildträger, freigestellt von der physischen Wirklichkeit – es altert nicht, es wandelt sich nicht, und es präsentiert Dinge, die nur sichtbar sind, so der Philosoph Lambert Wiesing.2 Der Blick in eine physikfreie Zone ermöglicht dem Betrachter eine Position der Distanz, einen Freiraum, in dem die Reflexion der Wahrnehmung selbst möglich wird, ohne dass man zugleich Objekt der Wirklichkeit wird. Denn: „Wer im Bild eintaucht, taucht dort nicht wieder auf. Im Gegenteil: ich sehe, ich tauche ein und bin weg.“3

 

1 Arno Schmidt, „Sind wir noch ein Volk der Dichter und Denker?“ (1963), in: Bernd Rauschenbach (Hg.), Arno Schmidt. Das große Lesebuch, Frankfurt am Main 2013, S. 140.

2 Vgl. Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt am Main 2009, S. 228.

3 ebda., S. 228.

 

 

 

SCHATTENGEWÄCHS

Elsy Lahner

 

 

 

MARIANNE LANG setzt sich zeichnerisch mit dem Raum auseinander. Mit ihren Arbeiten greift sie behutsam in die vorhandene Architektur ein. Sie verwebt verschiedene Raumstrukturen – das Innen und Außen, privaten und öffentlichen Bereich – miteinander und lenkt somit die Aufmerksamkeit auf deren Eigenarten. Dabei existiert entweder bereits vorab eine bestimmte Idee, die nur auf die richtige Konstellation wartet, oder es sind die Räume selbst, die die Künstlerin zu Arbeiten anregen. In diesem zweiten Fall entstehen die Werke aus einer konkreten Raumsituation und für einen bestimmten Raum.

            In ihrer Arbeit Fertigparkett (2011) befasste sie sich mit einem Parkettboden, dessen Fischgrätmuster sie zeichnerisch auf Kartonleisten fortsetzte und damit die Zeichnung zugleich zum räumlichen Objekt machte. Bei anderen Arbeiten war es der Grundriss eines Raums, den sie als Zeichnung im Maßstab 1:1 auf einen anderen Raum übertrug.

            Marianne Lang erschließt sich auch über das Zeichnen den jeweiligen Raum und greift zeichnerisch in die vorhandene Architektur ein. Sie variiert verschiedene Zeichentechniken und experimentiert mit diesen. Mit einem Gravur-

stift zeichnete beziehungsweise ritzte sie etwa Eiskristalle in Glasscheiben (Kristalline, 2011) oder verwendete einen Lötkolben, um mit diesem eine Zeichnung in ein Holzfurnier zu brennen (Fellimitat, 2013).

            Auch für ihre Serie von Wandarbeiten mit dem Titel Schattengewächse wählte Marianne Lang eine unkonventionelle Form des Zeichnens und bezog sich damit auf unterschiedliche räumliche Gegebenheiten wie ihr eigenes Atelier, den Ausstellungsraum, den privaten Wohnraum oder die Räumlichkeiten der Albertina im Rahmen einer künstlerischen Intervention. Gedankliche Ausgangsbasis hierfür waren Kletterpflanzen, wie sie zur Begrünung von Fassaden eingesetzt werden. Sogenannte „Selbstklimmer“, wie Efeu oder Wilder Wein, verfügen im Gegensatz zu Kletterpflanzen, die ein Gerüst benötigen, über Haftwurzeln oder spezialisierte Ranken, mit denen sie auf vertikalen Flächen Halt finden und an diesen nach oben streben. Nach und nach nimmt die wachsende Pflanze so das jeweilige Gebäude ein und überschreibt die ursprüngliche Architektur.

            Marianne Lang greift in ihren Wandarbeiten diese Eigenschaft auf und transferiert dafür ihre „Schattengewächse“

in den Innenraum und lässt sie mit diesem interagieren. Mit einem Linolschnittwerkzeug schabt und kratzt die Künstlerin in Sgraffito-Technik die Konturen und Flächen einer Kletterpflanze in den Wandputz. So wie die Haftwurzeln einer Kletterpflanze in die oberste Schicht des Mauerwerks eindringen, so setzt auch Marianne Lang der Wand zu. Ihre Zeichnung breitet sich im Vorgang des Arbeitens aus, überzieht die eigentliche Oberfläche und löst diese somit sukzessive auf. Die Zeichnung wird gleichsam in den Wandputz eingebettet. Marianne Lang macht dadurch die darunterliegenden Schichten sichtbar und legt sie frei. Bisher verborgene, frühere Farbanstriche und auch Materialien werden erkennbar, treten in den Vordergrund und bestimmen daher auch per Zufall das Erscheinungsbild der Wandzeichnung. Hier kommt plötzlich ein Fleckchen Rot zum Vorschein, dort wird eine aufgesetzte Holzplatte samt Astloch sichtbar, an anderer Stelle erscheint eine alte Bleistiftnotiz an der Wand.

            Die Wandarbeit erzählt von der Geschichte des Gebäudes. Sie löst auch die Erinnerung an eine Kletterpflanze aus, die hier einmal gewachsen sein könnte, die jemand weggenommen und dabei etwas mitgerissen hat. Die Zeichnung bleibt als Rückstand – als Schatten – erhalten.

Bei ihrer Intervention in der Albertina (2013) knüpfte Marianne Lang auch an die Vergangenheit der Habsburgischen Prunkräume an, die sich seit ihrer Nutzung als Wohnräume, nun unbewohnt, in einer Art Dornröschenschlaf befinden. Mit ihrem Schattengewächs bezog sie die Vielzahl an floralen Ornamenten mit ein, wie sie in Vestibül, Musensaal sowie den anschließenden Zimmern und Kabinetten an Wänden, auf Böden und Dekor zu finden sind.

            Eine weitere Charakteristik einer Kletterpflanze ist es, zu wuchern und sich unkontrolliert auszubreiten. Sie wächst über Ecken und Kanten, über Fenster und über Dächer und kennt kaum ein Hindernis. Auch diese Eigenschaft übernimmt die Künstlerin und lässt die Zeichnungen aus ihrem Rahmen ausbrechen. So bewegte sich etwa die Version des „Schattengewächses“ in der Albertina über die Stuckeinfassungen hinaus, zog sich die Wände hinauf, an den Säulen entlang und tauchte sogar an der gegenüberliegenden Wand auf.

            Bei Marianne Lang bleibt die Zeichnung somit nicht ein eingerahmtes statisches Bild, sondern befindet sich in einem Prozess, in dem die Künstlerin irgendwann bewusst innehält und ihn gezielt beendet.

 

 

ZU MARIANNE LANGS SERIE GARDINE

Margareth Otti

 

DIE SERIE Gardine entstand 2016 mit Silberstift auf grundierter Leinwand der Größe 150 auf 120 cm. Zu sehen ist auf den Bildern eine Gardine, ein durchsichtiger Vorhang. Da dieser mit Rüschen und Faltungen versehen oder an die Seite gerafft ist, befindet er sich wohl in einer etwas altmodischen Wohnung. An diesem imaginären Innenraum scheint das Paradigma der Schnörkellosigkeit der Moderne spurlos vorübergegangen zu sein. Es ist möglicherweise ein Fenster, durch das man blickt. Der Blick auf und durch die Leinwand aus dem Fenster beinhaltet eine surreale Sinnestäuschung: Nur durch den feinen Stoff der Gardine sieht man Gebäude, vielleicht eine Stadt. Erkennbar sind die mehrstöckigen Häuser ausschließlich durch den Schleier des Stoffes. Nicht jedoch durch das eigentliche Fenster, das üblicherweise hinter einem Sichtschutz den Blick freigibt. Was ist da zu sehen?

            In einer Galerie öffnet sich mit dem Betrachten der Gardine ein Fenster auf der weißen Wand, in der an sich Öffnungen nicht erwünscht sind, um möglichst den institutionellen, reinen White Cube frei von Störungen zu belassen. In Pompeji waren die Räume der Atriumhäuser, genannt cubiculi, ebenfalls häufig fensterlos. Die Schlafzimmer des altitalienischen Atriumhauses erhielten ihr Licht nur durch die Tür. Fenster gab es dennoch: al fresco wurden diese neben mythologischen Geschichten auf die Wand gebracht. Im „Haus des Jason“ zeigt eine Wandmalerei von etwa 50 v. Chr. die griechische Sagenfigur Phaedra und über ihr eine gerahmte Fensteröffnung, vor der sich ein eleganter roter Vorhang seitlich rafft und den Blick auf eine bläuliche Fläche, möglicherweise den Himmel, freigibt.1 Dieses Fenster bietet einen illusionistischen Ausblick, vielleicht funktioniert es als reine Dekoration, vielleicht birgt es aber auch eine symbolische Fluchtmöglichkeit für Phaedra. Oder es dient als Ausblick in eine andere Welt, als eine Projektionsfläche für die Bewohner des Hauses und eine Reflexion ihrer Zeit.

 

 

BILD. FENSTER.

 

DAS FENSTER steht seit Albertis Traktat De pictura von 1435 symbolisch für die neue Ordnung in der Malerei durch Geometrie und Zentralperspektive. Die rahmenartigen Hilfskonstruktionen der Maler aus Holz zur Konstruktion der Perspektive ähnelten Fenstern; das Bild selbst gilt als Fenster. Die perspektivischen Fluchtlinien machen die Bildoberfläche durchsichtig, das Bild ist ein illusionärer Tiefenraum, der Bilderrahmen zugleich ein Fensterrahmen. Dieses illusionistische Renaissancebild hält sich bis ins 19. Jahrhundert und wird auch von der Fotografie übernommen, bis ab 1860 Eduard Manet und in der Folge die Impressionisten die Bildoberfläche wieder opak werden lassen. Das Bild wird blind. Auch Claude Monets La capeline rouge, Portrait de Mme Monet von 1868–1878 ist flach, obwohl darauf ein mit losem Pinselstrich gemaltes Fenster und eine Gardine zu sehen sind.            

            Im Kubismus scheinen die Gegenstände sogar aus dem Bild herauszutreten, bei Robert Delaunays La tour aux rideaux von 1910 springen die beiden weißen, auf die Seite gerafften Vorhänge und die dunklen Schatten in den Faltungen im Bildvordergrund heraus und öffnen sich theatralisch für den in einer Staubwolke heranstürmenden Eiffelturm. Ab der Moderne des 20. Jahrhunderts isoliert die bildende Kunst das Motiv des Fensters und interpretiert dessen Sinn und Sein: Blickrichtungen werden irritierend gewendet, innen und außen vertauscht. Ohne umgebende Architektur und Blick in eine Landschaft wird es dekonstruiert, wie in Marcel Duchamps Fresh Widow 1920 und La Bagame d‘Austerlitz  von 1921; oder abstrahiert, wie in Henri Matisses Porte-fenêtre à Collioure von 1914 oder Ellsworth Kellys Window von 1949. In der Konzeptkunst zeigt sich das Motiv installativ, wie in Joseph Kosuths One and three windows von 1965 und in Gerhard Richters 7 Stehende Scheiben von 2002.

            Das Fenster wird in seine Einzelteile zerlegt, deren Interpretationen seine symbolische Bedeutung als Öffnung in eine andere Welt noch verstärken, dennoch bleibt das Fenster in den erwähnten Arbeiten in seinen Elementen als Motiv vollständig. Die Gardine jedoch zeigt einen Bildausschnitt, so als hätte man in einem Computerprogramm wie Photoshop in das Bild gezoomt. Unseren Sehgewohnheiten erscheinen heute Bildausschnitte durch die Lupe am Screen als alltäglich, während im 20. Jahrhundert ein Bildausschnitt immer eine bewusste Komposition und Konstruktion bedeutete. Ebenso alltäglich ist die Möglichkeit, aus einem Foto einfach einen Teil herauszuschneiden, eine Leerstelle zu schaffen, so wie in der Gardine die Leerstelle auf der Leinwand ausgeschnitten ist. Die Vervollständigung des Fensters und des Ausblicks bleibt dem Publikum überlassen. Das Verdeckte und Ausgeschnittene kann der Betrachter durch gedankliches Herauszoomen erkennen.

 

 

 

 

 

VORHANG. WELTBILD.

 

DIE SIXTINISCHE MADONNA von Raffael von 1512/13, eines der berühmtesten Gemälde, wird von einem grünen, himmelsgleichen Vorhang theatralisch inszeniert.2 Der schwere, vornehme Stoff lässt die zarte Vorhangstange ziemlich durchbiegen; viele Ringe sind notwendig, um den Blick auf die Madonna mit Kind und die Engelsköpfchen im Hintergrund freizugeben.

            Der rechte Vorhang ist exakt in derselben Art gerafft wie eine Gardine von Marianne Lang, und der genaue Betrachter erkennt am rechten Rand im Hintergrund ein Gebäude.3 Der Vorhang teilt das Bild nicht nur in links und rechts, sondern auch in Diesseits und Jenseits, Bildvordergrund und Bildhintergrund. Die Bildkomposition der Gardine bleibt dagegen uneindeutig. Zwar ist die Gardine als Stoff realistisch gezeichnet, so wie Plinius beschreibt, dass der Maler Parrhasius einen Vorhang so detailgetreu gemalt hätte, dass sein Wettstreiter Zeuxis verlangt habe, der Stoff solle gelüftet werden, um das Bild betrachten zu können.4 Man sieht in der Gardine aber weder Vorhangstange noch Elemente des Fensters, alles bleibt fragmentarisch, eine Andeutung. Auch Vordergrund und Hintergrund sind reine Interpretation, Bildtiefe ergibt sich erst aus der Vorstellung des Betrachters. Die Stadt hinter dem Vorhang kann ein Blick durch ein Fenster sein, vielleicht deutet sie aber eine surreale Fantasie an, ein Traumbild, das unsere Sehgewohnheiten irritiert. Der Vorhang thematisiert das Fenster als einen Durchblick in eine andere Wirklichkeit, er symbolisiert aber auch einen Sichtschutz, der den eigentlichen Blick auf die Wahrheit, die Zukunft oder das Ziel versperrt und der weggeschoben werden muss, um klarer zu sehen.

            Als revolutionär gilt die Darstellung eines Vorhangs im 17. Jahrhundert: Die Heilige Familie mit dem Vorhang, 1646 von Rembrandt gemalt, markiert eine Zäsur in der Rezeptionsästhetik. Erstmals wird der Vorhang vor dem Bild dargestellt, ein Trompe-l´oeuil und eine Verdoppelung der damals vor Bildern angebrachten echten Vorhänge. Zudem wollte Rembrandt vermutlich das Publikum mit seiner täuschend echten Malkunst beeindrucken. Ein gemalter goldener Rahmen fasst hinter dem Vorhang die Familie in dem schlichten Inventar ein und bildet eine sehr theatralische Inszenierung, eine Art Guckkastenbühne für die in Rembrandts Zeit verortete Darstellung von Maria, Josef und Kind. Das entfernte Türfenster im Hintergrund verschmilzt mit den Schatten der Natur, es ist nicht genau feststellbar – wie bei den Gardinen – ob man sich in einem Innen- oder Außenraum wiederfindet. Der Rahmen, der Vorhang und die Türkonstruktion demonstrieren eine Verdoppelung des Bildes als durchsichtige Oberfläche, als Fenster in eine ideelle Zukunft: Wohin schauen die Betrachter? Auf ein duales Weltbild, in dem die Mitglieder der heiligen Familie als arme Menschen unter ihresgleichen weilen und privilegierte Betrachter den Vorhang lüften.

 

 

LEERSTELLE. REPOUSSOIR.

 

EINE DER ZEICHNUNGEN von Marianne Lang zeigt den zarten transparenten Stoff links und rechts am Bildrand, so wie man es von einem üblichen (vielleicht Wiener) Altbaufenster kennt. Die Stores verbergen und offenbaren zugleich den Blick auf die Fenster der Gebäude gegenüber. Das Fenster, durch das man schaut, spiegelt sich in dem, worauf man schaut. In der Mitte des Bildes bleibt eine Leerstelle. Die Leerstelle ist ein Begriff der Literaturtheorie5 und wurde von Wolfgang Kemp6 in die bildende Kunst übertragen, wo sie eine Form der Integration des Betrachters in den Bildraum darstellt. Die Leerstelle bietet als eine undefinierte, freie Zone einen Platz für den Schauenden und lässt ihn am Geschehen im Bild teilhaben. In der Gardine ist diese Leerstelle offensichtlich: Der Betrachter ist die Person, die auf/durch die Leinwand schaut. Aber worauf schaut man? Auf eine grundierte Leinwand, eine leere, homogene Oberfläche, eingerahmt von einem feinen Vorhang. Leere, glatte Oberflächen sind omnipräsent in unserer Zeit. Wir klappen unser Werkzeug auf, und uns erwartet eine undefinierte, inhaltsleere Oberfläche, bereit, mit Bildern und Fenstern gefüllt zu werden. Die Fenster der Gegenwart, auf und durch die wir heute ständig schauen, sind Oberflächen in Form von touch screens, Fenster von Windows oder anderen Programmen, Bildschirme: leere Oberflächen, die, wenn man den Vorhang beiseiteschiebt, Blicke auf schier unendliche Bilderwelten preisgeben. Der Bildschirm ist das neue Fenster zur Welt. Der Mensch vor dem Bild(-schirm) wird zu einer im Bild(-schirm) implizierten Person, einer Rückenfigur, die aus dem und auf die Fenster schaut, einem Repoussoir.7           

            Rückenfiguren, die durch ein Fenster oder auf eine Landschaft schauen, finden sich häufig in Bildern der Romantik.8 Auch das offene Fenster ist als Motiv neu und fand großen Anklang als Symbol für den Zeitgeist, wie in Caspar David Friedrichs Blick aus dem Atelier des Künstlers (rechtes Fenster) von 1805/06 und dem zeitgleich entstandenen Blick aus dem Atelier des Künstlers in Dresden auf die Elbe (linkes Fenster), in denen der Künstler den Betrachter als die Figur am Fenster besetzt. Diese zwei Arbeiten zeigen weder eine großartige Landschaft als Ausblick noch sind sie Darstellungen von besonderer Inneneinrichtung. Sie zeigen geöffnete Atelierfenster, deren Schlichtheit und unprätentiöser Inhalt den Nerv der Zeit trafen: das Sehnen der Romantik. Auch die Gardine bildet kein Interieur und keine Landschaft ab, sondern viele Fenster, im imaginierten Bildvordergrund auf Höhe des Betrachters und im Hintergrund verschleiert. Viele Fenster und Blicke: eine Analogie zu uns, die wir als gebeugte Rückenfiguren am Bildschirm sitzen, dem gegenwärtig beliebtesten und aktuellsten Fenster. Oder wir gehen, die Augen unablässig auf ein kleines Fenster in unserer Hand gerichtet, blind und abwesend durch die Stadt. Viele Programmfenster überlappend oder nebeneinander geöffnet, schauen wir sehnsüchtig in eine andere Welt. Die Architektur im Bildhintergrund der Gardine könnte eine Metapher für die virtuellen Gebäude sein, die uns heute umgeben.

 

 

MATERIAL. INHALT.

 

IN LANGS ZEICHNUNGEN verbinden sich Zeichenmaterial und Inhalt besonders glücklich. Lang experimentiert mit ungewöhnlichen Techniken wie der Brandzeichnung, Holzeinlegearbeiten auf Papier, Ritzungen und arbeitet mit Silberstift oder weißer Kreide. Die gewählte Technik und das Motiv harmonieren auf eindrucksvolle Weise, und die exakt ausgeführten Zeichnungen wirken in der jeweiligen Arbeitsmethode besonders geheimnisvoll. In diesem Fall arbeitet sie mit Silberstift, der die faszinierende Eigenschaft besitzt, dass die hellgrauen Linien mit der Zeit in ein tiefes Anthrazit nachdunkeln. Das Zeichnen erlaubt keine Fehler, denn es kann nicht radiert werden, und jede Ausbesserung ist eine Irritation. Die Herstellung der vier Arbeiten der Serie Gardine erfordert großes zeichnerisches Können und die Fähigkeit, sehr langsam zu arbeiten und sich kontemplativ in das Zeichnen zu vertiefen. Der Silberstift wird zuerst, einem Schleier gleich, sehr zart aufgetragen, wie auch der Inhalt der Zeichnung einen Schleier zeigt. Der Zeichenstrich fügt sich in kleinen Schritten zu flächigen Farbfeldern und Schattierungen des realistisch wirkenden Gardinenstoffes, der die für eine Zeichnung sehr große Fläche von 150 auf 120 cm füllt. Selbst in der Arbeitsweise gibt es bemerkenswerte Analogien zu Caspar David Friedrich: Die Zeichnungen Friedrichs sind in Sepia auf Papier, in graubrauner Tusche, die umsichtig und genau aufgetragen werden muss, um den dargestellten Wechsel von Licht und Schatten zu erhalten. Auch diese Zeichentechnik ist mühevoll und erfordert Akribie und Geduld: Drei Jahre arbeitete Friedrich an den sechs Blicken aus dem Atelier, von denen zwei erhalten sind.

 

 

INNEN. AUSSEN.

 

FENSTER SCHAFFEN VERBINDUNGEN zwischen Außen- und Innenräumen, dem Familiären und dem Unbekannten, ohne die Trennung dieser Räume jedoch ganz aufzuheben. Friedrichs nüchterne Wiedergabe des Fensters als Schwelle zwischen nah und fern stellte die ideale Metapher für unerfülltes Sehnen dar. Man ist drinnen und sehnt sich nach dem entfernten Draußen. Auch die Gardine ist ein Sehnsuchtsbild: Etwas hinter einem Vorhang Verborgenes reizt die Neugier; die Verhüllung ist Verheißung und zieht die Blicke an. Das Ziel der Sehnsucht wird jedoch definiert durch das Nicht-Angestrebte, das Verdeckte. Die Häuser der Stadt hinter dem Schleier erscheinen nicht als das Ziel des Wollens. Das Sehnen zielt auf das Dazwischen, das Freigebliebene, das Undefinierte.

            Rene Magrittes Éloge de la dialectique von 1937, „Das Lob der Dialektik“, zeigt eine surrealistische Illusion, die mit der Wahrnehmung von Architektur und dem Blick aus dem Fenster spielt: Der Blick durchs Fenster in ein Zimmer hinein offenbart wieder ein Haus. Das Fenster ist geöffnet, und der exakt wie in der Gardine geraffte und gerüschte Vorhang führt perspektivisch in einen Innenraum, ein Zimmer. Er gibt den Blick frei auf ein Gebäude, exakt wie jenes, auf dessen Fassade man schaut. Ein Mise-en-abyme, ein Bild, das sich selbst enthält: Wenn wir ein Fenster öffnen, sehen wir unzählige weitere zu öffnende – Instagram, Facebook, Tumblr, Pinterest und Google-Bildersuche zeigen es uns vor. Wie zwei Spiegel, die einander gegenüberstehen und den Blick in das Unendliche verdoppeln, stehen wir vor einem etwas unheimlichen Ort mit der Herausforderung, immer weiter und weiter zu schauen. Es ist eine Übersteigerung der Ambivalenz des Verhältnisses von Innenraum und Außenraum, in der der Mensch verloren gegangen zu sein scheint. Magritte arbeitet malerisch gegen die Gesetze der Logik. Der Blick durch ein Fenster in einen Raum offenbart ein Haus: Man sieht gleichzeitig zum Fenster hinein und hinaus.9 „So sehen wir die Welt. Wir sehen sie außerhalb unserer selbst und haben doch nur eine Darstellung von ihr in uns“,10 schreibt Magritte und fordert wie die Zeichnung Gardine vom Betrachter eine theoretische, dialektische Auseinandersetzung mit dem Innen und dem Außen, mit nah und fern, dem Ich und den Anderen, dem Gestern und dem Heute, der Realität und der Imagination, dem Bild und der Erwartung.

 

 

WINDOWS. OUTLOOK.

 

SYMPTOMATISCH FÜR DEN RAUM ohne Öffnungen, verdeckt von einem Vorhang, der endlich keine Fenster beinhaltet, die uns herausfordern, ist die räumliche Installation Saal, die 2011 von Thomas Demand im Metzler-Saal im Frankfurter Städel Museum realisiert worden ist. Der Künstler fotografierte ein Papiermodell eines Vorhangs, das im Atelier gebaut wurde. Die Aufnahmen transferierte er auf eine textile Wandbespannung, der bedruckte Stoff wurde auf Paneele gespannt und mit Magneten an den Wänden des 240 m2 großen Saales fixiert. Diesen Vorhang kann niemand zurückschieben, er ist ein doppeltes Tromp l´oeuil. Kein echter Stoff, nicht einmal die Fotografie eines echten Stoffes. Dieses Kunstwerk täuscht, so wie wir unzählige Male von den Bildern im Internet betrogen werden. Die Installation lässt sich ebenso als surrealistische Interpretation der Gegenwart wie als eine Sehnsucht interpretieren: Bitte keine Fenster, keine Bilder mehr: Zieht den Vorhang zu!

            Gegen die Gesetze der Logik blickt man auch auf das Bild Gardine auf der weißen Wand wie durch ein Fenster im Ausstellungsraum, im White Cube, der üblicherweise wie das eingangs erwähnte cubiculum in Pompeij keine Öffnungen außer Türen besitzt. Man schaut vorbei an einer Gardine, die nicht modern ist, durch die grundierte Leinwand, eine weiße Fläche, die wohl symbolisch für die Moderne stehen kann. Die zeitgenössische Interpretation, die Marianne Langs Gardine von 2016 einfordert, kann jene der Metapher auf unsere Zeit sein.

            Wohin schauen wir? Auf unsere Gegenwart und Zukunft, von der wir noch nicht wissen, wie wir sie benennen sollen, die noch verschleiert ist, gefüllt mit Fenstern, Windows, Ausblicken, Outlooks, Oberflächen, Bildschirmen und Bildern.

 

 

 

1 Siehe: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Phaedra_letter_MAN_Napoli_Inv114322.jpg, zuletzt aufgerufen am 4. August 2017.

2 Wolfgang Kemp: Rembrandt: Die Heilige Familie oder die Kunst, einen Vorhang zu lüften, Frankfurt/Main 1986, S. 28: „Vorhänge im Bild waren zeitgleich bei den Malern der südlichen Niederlande und Italiens ein beliebtes Mittel, porträtierte Personen oder heilige Gestalten mit Weihe, Pomp und Grandiosität zu hinterlegen.“ Im 15. Jahrhundert spielten Fenster und Türrahmen in der altniederländischen Malerei eine große Rolle in der Gestaltung des Bildraumes, wie z. B. bei der Madonna mit Kind im Diptychon von Hans Memling von 1487. Auch in der italienischen Malerei der Renaissance sind sowohl Vorhang als auch Fenster wesentliche Elemente, z. B. bei Tizian, Madonna mit dem Kind (La Zingarella), 1512.

3 Ein Turm, das Attribut der hl. Barbara.

4 Siehe Plinius der Ältere: Naturalis Historiae, Buch 35, S. 64.

5 Siehe Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des englischen Romans von Bunyan bis Beckett, London 1975. Die Leerstelle bezeichnet in Romanen die Stelle, an der die Erzählform wechselt. Der Leser muss selbst die verschiedenen Elemente in Beziehung setzen und den Text fertig formen. Für Iser beispielhaft ist Ulysses von James Joyce.

6 Siehe Wolfgang Kemp (Hg.): Der Betrachter ist im Bild: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 1992.

7 Repoussoir kommt vom französischen repousser, „zurücktreiben“. Ein im Vordergrund eines Bildes platziertes Objekt wird übergroß und dunkel dargestellt und deutet als technischer Trick Raumtiefe an. Das Bild selbst erzeugt, wie in der Romantik, keine perspektivische Tiefe, es ist aus flächigem Vorder- und Hintergrund gestaltet.

8 Siehe Sabine Rewald: Rooms with a View. The Open Window in the 19th Century, Metropolitan Museum of Art, New York 2011, S. 3.

9 Siehe auch die Arbeiten von Marianne Lang: Double Sights, 2013–15, Bleistift, 150 x 110 cm.

10 René Magritte: „Die Lebenslinie“, in: André Blavier (Hg.): Rene Magritte. Sämtliche Schriften, München 1981, S. 108.

 

 

 

 

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